Thomas Broich: "Gebt dem Ganzen eine Chance"
Thomas Broich ist gerne offen für Neues. Als Profi spielte er nach seiner Zeit bei Borussia Mönchengladbach, dem 1. FC Köln und 1. FC Nürnberg sieben Jahre in Australien. Heute kümmert er sich um den deutschen Nachwuchs, zuletzt als Leiter Methodik bei Hertha BSC, ab der neuen Saison als Sportlicher Leiter des Leistungszentrums von Borussia Dortmund. Auch an der aktuellen Reform des Kinderfußballs, die im Sommer bundesweit verbindlich greift, zeigt der 43 Jahre alte Ex-Profi großes Interesse. Darum ist Broich am Samstag beim Abschluss der Kinderfußball-Tour von DFB und Volkswagen am DFB-Campus in Frankfurt zu Gast, ehe er bei der EURO 2024 wieder als TV-Experte für die ARD im Einsatz ist.
Im Interview mit FUSSBALL.DE spricht Thomas Broich über die neuen Spielformen im Kinderfußball, warum ihn das Thema bewegt, wie er die kontroversen Diskussionen beurteilt, welche Missverständnisse er sieht, die Macht der Überzeugung, den entscheidenden Unterschied zwischen Nachwuchs- und Profifußball und was ihn ganz persönlich inspiriert.
FUSSBALL.DE: Herr Broich, selten hat der Kinderfußball so viel öffentliche Aufmerksamkeit und Emotionen geweckt. Wie haben Sie die zum Teil sehr hitzigen Diskussionen um die Reform in G-; F- und E-Jugend wahrgenommen?
Thomas Broich: Ich habe viel gelernt durch die Diskussion.
"Mittlerweile denke ich: Geil, dass wir diese Kontroverse haben"
Inwiefern?
Thomas Broich: Zum einen fand ich es interessant, wie krass das Thema bewegt, was es mit den Leuten macht und auf welchem Niveau teilweise diskutiert wurde. Auffällig war, dass starke Meinungen und Überzeugungen von Personen geäußert wurden, die sich mit dem Thema wahrscheinlich noch nie richtig auseinandergesetzt hatten und keine Erfahrung mit Kinderfußball haben. Da war vieles von Bauchgefühlen geprägt. Dadurch, dass es zum Teil sehr prominente Stimmen waren und viele dieser Personen auf Profi-Ebene äußerst erfolgreich waren oder sind, wurde natürlich noch genauer hingehört und die Kritik aufgenommen. Ich fand das am Anfang schade und dachte: Wow, da gibt es eine super Idee und sie wird so heftig attackiert.
Und jetzt?
Thomas Broich: Mittlerweile denke ich eher: Geil, dass wir diese Kontroverse haben. Das ist besser, als wenn es einfach nur eine nette Idee wäre und keiner sich daran stoßen würde. Dass sich Leute verschiedenster Ebenen emotional einbringen und der Bedarf vorhanden ist, die Sachverhalte noch eingehender zu erklären, ist für die Sache ein totaler Gewinn. Für die Macher der Reform waren die öffentlichen Diskussionen anfangs bestimmt total frustrierend, weil man sich missverstanden fühlt. Aber letztlich tut diese Kontroverse gut. Weil über dieses wichtige Thema gesprochen wird und wir zunehmend begreifen, dass Profifußball eben nicht Jugendfußball ist und erst recht nicht Kinderfußball.
Heißt: Eine gute Reform muss auch polarisieren?
Thomas Broich: Ich weiß nicht, ob es so sein muss. Wenn etwas einfach durchflutscht und alle nehmen es einfach an, verinnerlichen und leben es, dann ist es auch toll. Aber die Realität ist eben oft eine andere, gerade wenn – wie in diesem Fall – ein Paradigmenwechsel damit verbunden ist. Das geht nie geräuschlos vonstatten. Darum ist es wichtig, die Leute immer wieder mitzunehmen und das Thema groß zu machen. Dort, wo man für den Moment noch nicht überzeugen kann, muss man auch für Geduld werben.
Warum ist das leichter gesagt als getan?
Thomas Broich: Es ist ja häufig so, dass es eine gute Idee gibt, aber noch kein "Proof of Concept". Zumindest nicht im eigenen Land. Natürlich können wir sagen, schau doch mal nach England oder in die Schweiz oder nach Belgien. Aber dann kommen trotzdem 1000 Gründe, warum der deutsche Fußball anders ist, warum das bei uns nicht funktioniert und warum wir niemanden kopieren sollten. Andererseits müssen wir feststellen: Was bislang bei uns war, ist auch nicht ideal. Und darum ist es wichtig, etwas anderes zu probieren.
Was halten Sie denn persönlich vom neuen Kinderfußball?
Thomas Broich: Ich halte das Konzept für wirklich durchdacht. Es ist ein anderer Ansatz und vielleicht nicht für jedermann sofort nachvollziehbar. Aber ich appelliere: Gebt dem Ganzen eine echte Chance. Nur dann kann es klappen. Wenn wir nur mit Vorbehalten an die Sache gehen, werden wir nie erfahren, wie gut es hätte werden können. Darum brauchen wir Menschen, die das aus voller Überzeugung mitgehen. Umsetzung braucht immer Bereitschaft. Mir fällt da das Beispiel des FC Barcelona ein.
Wir sind gespannt.
Thomas Broich: Barcelona hat sein Handbuch, in dem die Philosophie des Klubs erklärt ist. Darin ist festgehalten, dass alle Menschen, die für den FC Barcelona arbeiten, deren Spiel auch lieben müssen, weil sie der Überzeugung sind, dass das Ganze nur dann richtig transportiert werden kann. Umgekehrt: Wenn ich innerlich totale Vorbehalte habe, wenn ich die Sache eigentlich nicht mag und nicht vertrete, wenn ich selbst nicht daran glaube, dann bin ich nicht der Trainer, der ich sein könnte. Es geht dabei nicht darum, sich unkritisch einer Sache zu verschreiben. Man muss aber offen, überzeugt und voller Leidenschaft an die Aufgabe herangehen. Mit angezogener Handbremse wird es nichts. In ein paar Jahren können wir dann feststellen, was gut funktioniert hat und was vielleicht weniger gut. Das gilt auch für den Kinderfußball.
Wie sind Sie mit der Kinderfußball-Reform erstmals in Berührung gekommen?
Thomas Broich: Durch Hannes Wolf. Er hat so viele Vorträge gehalten, dass ich gar nicht mehr daran vorbeikam. Er hat das mit einer angenehmen Penetranz gemacht (lacht) . Ich habe mich daraufhin intensiver damit auseinandergesetzt, es abgeglichen mit meinen Idealen, mit meiner Vorstellung von Fußball. Ich muss nicht jeden einzelnen Aspekt zu 100 Prozent teilen. Aber die Stoßrichtung gefällt mir unheimlich gut und darum nehme ich mich dabei auch selbst in die Pflicht.
Was gefällt Ihnen inhaltlich am besten an den neuen Spielformen, die im Kern kleine Wettbewerbsformate im 2 gegen 2, 3 gegen 3 und 5 gegen 5 beinhalten?
Thomas Broich: Zum einen, dass viel mehr Beteiligung entsteht durch die kleineren Formate. Alle Kinder spielen, alle haben Aktionen. Und zum andere finde ich positiv, dass das reine Ergebnisdenken erstmal hintenangestellt wird.
Ein heikler Punkt…
Thomas Broich: Ja, da kommen permanent Missverständnisse auf. Es klingt so, als würde man kein Spiel und keine Titel gewinnen wollen. Aber so ist es nicht! Natürlich geht es auch für die Kids darum, jedes Spiel gewinnen zu wollen und alles rauszuhauen, aber in Kontexten, in denen es für sie und für ihr Alter Sinn macht. Also: Viele Ballaktionen und gleich weiter ins nächste Spiel. Und mit Trainerinnen und Trainern, die Entscheidungen für die Kinder treffen und nicht fürs Prestige in Form von Tabellenplätzen. Ich glaube, dass die neuen Formate den Kindern total zugute kommen und die Art, wie sie später Fußball spielen, verbessern. Sie müssen permanent im Zweikampf Lösungen finden - sehr intuitiv, sehr kindgerecht.
Mancher Kritiker befürchtet eine Verweichlichung des Nachwuchses.
Thomas Broich: Ich verstehe die Sorge schon. Wenn uns Ergebnisse komplett egal wären und wir junge Spieler zu einer Egal-Mentalität erziehen würden, dann wäre es verkehrt. Da verstehe ich jeden, der mahnend den Zeigefinger hebt. Aber darum geht es in den neuen Formaten nicht! Wir wollen niemals am Siegeswillen der Jungs und Mädchen rütteln, ganz im Gegenteil. Ehrgeiz und absolute Leidenschaft sind wichtig und werden das immer bleiben! Aber es geht vor allem um die Möglichkeit der Entwicklung. Ich habe die Problematik als Jugendspieler selbst erlebt.
Inwiefern?
Thomas Broich: Ich war in der Jugend ein Spieler, der in der körperlichen Entwicklung hintendran war. Ich hatte Mitspieler, die sahen mit 15 aus wie Männer. Ich dagegen war noch ein totales Kind. Ich habe dann vom damaligen Stichtagswechsel profitiert. Auf einmal war ich in meinem Jahrgang quasi ein halbes Jahr „älter“ und Toptalent. Ich war zwar der gleiche Spieler, galt aber nun als förderungswürdig. Völlig absurd. Auf den letzten Metern der Jugendzeit hat sich bei mir später noch unheimlich viel getan, während andere Jungs, bei denen alle überzeugt waren, dass sie Profi werden, auf der Strecke geblieben sind. Darum bin ich der festen Überzeugung, dass man eine besondere Brille und eine besondere Sicht für den Nachwuchsfußball braucht. Damit verbunden ist eine Grundsatzfrage: Wollen wir ausbilden oder wollen wir selektieren?
Wie wichtig sind dabei Ergebnisse?
Thomas Broich: Fußball ist ein Fehlersport. Also gewinnt in der Regel die Mannschaft, die weniger Fehler macht. Junge Spieler sind noch viel fehleranfälliger. Das heißt, Du kannst im Nachwuchsbereich mit noch größerer Wahrscheinlichkeit bessere Resultate erzielen, wenn du Fehler minimierst. Die Krux ist aber, dass junge Menschen vor allem dann lernen, wenn sie Fehler machen und Fehler machen dürfen. Also möchte man die Trainerinnen und Trainer ermutigen, eine risikoreiche, mutige Spielweise zu wählen. Aber dann werden sie schnell feststellen, dass vielleicht das eine oder andere Ergebnis in die falsche Richtung kippt.
Und dann?
Thomas Broich: Das müssen wir aushalten - als Trainer, als Eltern, als Berater, als Vereine. Denn: Wir wollen, dass die Jungs und Mädchen besser werden. Ich möchte keine Spielweise, die wir heute in der Jugendmannschaft toll finden, nur weil wir gewinnen. Ich möchte eine Spielweise finden, dass sich die Jungs und Mädels in ein paar Jahren in der Bundesliga toll finden. Weil sie richtig gut sind.
Sie haben betont, dass Profifußball nicht Jugendfußball ist und schon gar nicht Kinderfußball. Worin liegt für Sie der entscheidende Unterschied?
Thomas Broich: Schon in der grundsätzlichen Fragestellung. Im Profifußball steht über allem: Wie gewinne ich das Spiel? Im Jugendfußball, zumindest im Leistungsbereich, ist aus meiner Sicht am wichtigsten: Was wollen wir gerade lernen? Was braucht der und die Einzelne? Und im Kinderfußball steht im Mittelpunkt: Wie erzeugen wir überhaupt Freude und Bewegungsdrang? Wie werden wir unseren Kindern gerecht? Im Kinderfußball schaffen wir eine Basis. Die Kids sollen erstmal Sport machen und Spaß daran haben. Auf dieser Grundlage können sich Ambitionen und Talent entwickeln.
Kreisen wir zu häufig um uns selbst?
Thomas Broich: Ja, schon. Vieles, was im deutschen Fußball passiert, wird ja nicht hier komplett neu erdacht. Wir importieren viel. Wir sind in Deutschland auch immer wieder Vordenker, aber wir dürfen uns schon inspirieren lassen. Andere Leute überall auf der Welt machen so gute Arbeit. Ich bin da für eine totale Offenheit, ohne plump zu kopieren.
Was inspiriert Sie persönlich?
Thomas Broich: Auf der Meta-Ebene fasziniert mich, was Johan Cruyff geschaffen hat. Er hat eine Idee von Fußball in die Welt gesetzt, die schön und intelligent ist, die gelehrt werden kann und zeitlos erfolgreich ist, natürlich heute in modifizierter Form. Das ist grandios. Er hatte nicht allein das Gewinnen im Blick, sondern vor allem den Weg, wie man überhaupt erst gewinnen und Spieler entwickeln kann.
Schön soll auch die Abschlussveranstaltung der Kinderfußball-Tour am Samstag am DFB-Campus werden. Sie werden mit vor Ort sein. Warum nehmen Sie den Termin wahr?
Thomas Broich: Aus großem Interesse für das Thema. Und aus der Überzeugung, dass wir viele sein müssen. Es braucht für jede neue Idee eine kritische Masse. Ich kann zuhause sitzen und den neuen Kinderfußball einfach gut finden - oder ich kann mich zeigen und den Leuten, die das Konzept auf den Weg gebracht haben, zur Seite stehen. Ich glaube, da hilft jeder Mitstreiter.