"In Schottland wird Fußball gearbeitet"
Joel Brogan, in Glasgow geboren und zuletzt für Vizemeister SV Heimstetten in der Bayernliga Süd am Ball, fiebert der UEFA EURO 2024 und ganz besonders dem Eröffnungsspiel zwischen Deutschland und seinem Heimatland Schottland heute (ab 21 Uhr, live im ZDF) entgegen. Nach dem Turnier wird der 21 Jahre alte Linksverteidiger in die USA ziehen, um in Kalifornien Theologie zu studieren. Im FUSSBALL.DE-Interview spricht Joel Brogan über schottischen Eigenschaften, die Turnierchancen der "Bravehearts", das deutsche Team und seinen EM-Favoriten
FUSSBALL.DE: Wie sehr fiebern Sie der Europameisterschaft in Deutschland entgegen, Herr Brogan?
Joel Brogan: Ich kann es kaum abwarten. Das liegt vor allem auch daran, dass das Eröffnungsspiel zwischen Deutschland und Schottland direkt vor meiner Haustür in München stattfindet. Meine Eltern, die in den USA leben und für die EM nach München anreisen, hatten sich um Tickets bemüht, wollten mit mir ins Stadion gehen. Mein Vater Kevin ist Schotte und meine Mutter Marty Engländerin. Leider hatten wir bei den Ticketverlosungen der UEFA kein Glück.
Die gesamte Fußballwelt wird beim EM-Eröffnungsspiel auch auf Schottland gucken. Welche Bedeutung hat das für Sie?
"Die schottischen Fans sind sehr freundlich, kein bisschen aggressiv, trinken und singen sehr viel"
Brogan: Ich bin bereits von vielen Freunden darauf angesprochen worden, ob ich Flaggen oder Trikots besitze, weil jeder dabei sein will. Wir werden uns die Partie mit schottischen Fans voraussichtlich beim Public Viewing im Olympiapark anschauen. Vorher treffen wir uns auf dem Marienplatz und werden uns auf das Eröffnungsspiel einstimmen. ( lacht )
Können Sie sich noch an das letzte Aufeinandertreffen beider Teams erinnern?
Brogan: Ja, klar. Es war am 7. September 2015 im Hampden Park von Glasgow. Schottland verlor in der EM-Qualifikation knapp 2:3. An dieses Spiel kann ich mich noch ganz genau erinnern, da wir zu diesem Zeitpunkt in Schottland waren und es mit der Familie zusammen angeschaut haben.
Was erwarten Sie insgesamt von der EM in Deutschland?
Brogan: Es ist super, dass so viele Nationen zusammenkommen und ein Fußballfest feiern werden. Ich bin froh, dass ich das miterleben darf, weil ich beim Sommermärchen 2006 noch zu jung war. (lacht) Die schottischen Fans sind sehr freundlich, kein bisschen aggressiv, trinken und singen sehr viel.
Schottland ist erst zum vierten Mal bei einer Europameisterschaft dabei. Bei der vorherigen EM hießen die Gegner England, Kroatien und Tschechien. Welche Erinnerungen haben Sie noch an dieses Turnier?
Brogan: An das torlose Remis zwischen Schottland und England kann ich mich noch ganz genau erinnern. Wir hatten viele Leute zu uns nach Hause eingeladen. Alle waren für Schottland, nur meine Mutter hat England die Daumen gedrückt. (lacht) Am Ende kam England ins Finale, für uns war nach der Vorrunde Schluss.
Was trauen sie der Nationalmannschaft Ihres Heimatlandes diesmal zu?
Brogan: Ich weiß natürlich, dass Schottland bei einem großen Turnier noch nie über die Gruppenphase hinausgekommen ist. Wenn unser Team diesmal die Vorrunde übersteht, wäre ich schon sehr stolz. Dafür müssen wir wohl Ungarn und die Schweiz hinter uns lassen. Deutschland ist in der Gruppe der klare Favorit.
Was zeichnet den schottischen Fußball aus Ihrer Sicht vor allem aus?
Brogan: In Schottland wird Fußball gearbeitet. Deutschland hat eindeutig die besseren Spieler. Aber die Schotten geben niemals auf, werden kämpfen und sich in jeden Zweikampf werfen. Der unbändige Kampfeswille zeichnet den schottischen Fußball aus.
Wo sehen Sie die besonderen Qualitäten des Teams von Trainer Steve Clarke?
Brogan: Wir haben beispielsweise mit Andrew Robertson vom FC Liverpool, Scott McTominay von Manchester United oder John McGinn von Aston Villa einige Topspieler, die in der Premier League für Furore sorgen. In der Qualifikation haben wir Spanien 2:0 besiegt. Ich hoffe sehr, dass die Mannschaft diese gute Form mit in das Turnier nehmen kann.
Was ist im Eröffnungsspiel gegen Deutschland drin?
Brogan: Schottland kann gegen Deutschland ein gutes Spiel machen, aber wahrscheinlich wird es nicht reichen. Wenn wir ein Unentschieden holen, wäre ich schon sehr glücklich.
Haben Sie bereits schottische Fans zu sich nach Hause eingeladen?
Brogan: Eine Freundin meiner Mutter, die Schottin ist, kommt extra für die EM nach München und wird unser Gast sein.
Wie ticken die Schotten außerhalb des Fußballs?
Brogan: Meine Familie kommt tatsächlich aus den Highlands. Wir besitzen alle einen Kilt, den wir bei Hochzeiten oder anderen Feierlichkeiten tragen. Traditionell hat man nichts drunter. (lacht) Wir mögen Geselligkeit und trinken gerne Whisky. Die Schotten sind sehr gastfreundschaftlich und stolz auf ihre Geschichte um William Wallace, den der US-Schauspieler Mel Gibson im Film "Braveheart" verkörpert hat.
Sie wurden in Glasgow geboren. Schlägt Ihr Herz für Celtic oder die Rangers?
Brogan: Mein Großvater George war gebürtiger Ire und Celtic-Fan. Die Rivalität beider Klubs hat eine religiöse und historische Komponente. Die Rangers gelten als Verein der Protestanten in der Stadt, Celtic als der katholisch geprägte Klub irischer Einwanderer. Auch mein Vater Kevin und ich sind eingefleischte Celtic-Fans.
In der abgelaufenen Saison waren Sie für den SV Heimstetten in der Bayernliga Süd am Ball, kickten früher auch schon für den FC Deisenhofen, den SC Fürstenfeldbruck und Eintracht Karlsfeld. Wie kommt ein Schotte nach Bayern?
Brogan: Meine Eltern sind damals nach Deutschland gezogen, um in München die Gemeinde Hope Church zu gründen. Ich habe von 2002 bis 2003 in Glasgow gelebt und bin dann im Alter von einem Jahr mit nach Deutschland gekommen.
Seit Oktober 2023 standen Sie beim SV Heimstetten zwar noch oft im Kader, kamen aber nicht mehr zum Einsatz. Warum?
Brogan: Während der Wintervorbereitung hatte ich eine Knochenhautentzündung an beiden Schienbeinen. Der Konkurrenzkampf beim SV Heimstetten war groß, und ich konnte mich - da bin ich ehrlich - nicht durchsetzen. Am letzten Spieltag wurde ich bereits verabschiedet. Ich werde im August nach Kalifornien ziehen und dort Theologie studieren. Ob ich in den USA weiter Fußball spielen werde, weiß ich noch nicht.
Zum Abschluss: Wer ist für Sie der große Favorit auf den EM-Titel?
Brogan: Frankreich hat für mich die besten Chancen. England hat bei den zurückliegenden großen Turnieren ebenfalls gut performt, könnte es diesmal ebenfalls schaffen. Aber auch Deutschland als Gastgeber muss man immer auf dem Zettel haben.