Heike Acker: Die Frau für alle Fälle
Sie ist im Prinzip Trainerin der deutschen Fußball-Nationalmannschaft. Nur kennt sie fast niemand. Heike Acker coacht die Fußballmannschaft der Behindertensportgemeinschaft Neckarsulm. Das Team, das bei den diesjährigen Special Olympics World Games in Berlin für Deutschland an den Start geht. Heute am Internationalen Frauentag über eine Frau mit einer beispiellosen Lebensaufgabe.
Eigentlich ist Heike Acker Lehrerin an einer Förderschule – für Sport, Technik und Natur. Die 60-jährige Hessin hat aber noch einen zweiten Vollzeitjob. Denn bei der BSG Neckarsulm leitet sie seit Jahren die von ihr selbst gegründete Fußball-Abteilung – und trainiert gleichzeitig eben das Team. Am Anfang stand sie mit sieben Leuten da, gekickt wurde auf einem Rugby-Platz. Mittlerweile sind es 35 Spieler zwischen 12 und 35 Jahren mit verschiedenen geistigen Behinderungen – Downsyndrom, Autismus, Lernbehinderung, Epilepsie oder körperlich Beeinträchtigte. Theoretisch können hier auch Frauen mitspielen, praktisch sind es aber derzeit nur Männer. 17 Jahre lang hat Acker das Training komplett allein geleitet, nun wird sie von zwei Leuten unterstützt: Ein Schüler von ihr kümmert sich um die Leistungsschwächeren und Aaron Bohnes, eigentlich Coach der U 17-Nationaltorhüterinnen beim DFB, ist Torwarttrainer. Jeden Mittwoch wird 1,5 Stunden trainiert.
Einfach machen und ausprobieren
Fußballtraining für Behinderte kann grundsätzlich jeder anbieten, denn es ist wie jedes andere auch. Vereine müssen dafür keine Auflagen erfüllen, dennoch bedarf es gewisser Fähigkeiten: "Man muss schauen, dass alle inkludiert sind. Also wie kann ich die Übung so herunterbrechen, dass der leistungsstarke Kicker nicht immer gewinnt. Dann läuft er eben nochmal um zwei Hütchen rum und der andere kann durchlaufen. Man muss die Fähigkeit besitzen, Übungen anzupassen. Sonst überfordert man die Schwächeren." Aber auch didaktisch gebe es etwas zu beachten, so Acker: "Ich muss auf die Wortwahl achten und in einfacher Sprache reden, wenn ich eine Übung erkläre. Und ich frage nach: Habt ihr es wirklich verstanden?"
"Man muss die Fähigkeit besitzen, Übungen anzupassen, sonst überfordert man die Schwächeren"
Auch aus solchen Gründen plädiert Acker dafür, lieber eigene Behindertensportvereine zu gründen anstelle extra Teams in bestehenden Vereinen zu gründen. Ihre Erfahrungen zur Inklusion behinderter Sportler*innen in Teams ohne behinderte Menschen seien einfach zu schlecht: "Wenn derjenige angespielt wird und nichts mit dem Ball anfangen kann, dann werden die anderen ihn nicht mehr anspielen und er wird zum Außenseiter. Inklusion funktioniert so nicht." Deswegen gehen sie beim BSG Neckarsulm einen anderen Weg, der sich Unified Teams nennt. Hier treiben Menschen mit geistiger Behinderung (die Athlet*innen) und ohne geistige Behinderung (die Partner*innen) gemeinsam Sport. Die Idee stammt von Special Olympics und wird in Neckarsulm wie folgt umgesetzt: Die Unified Partner kommen in den Verein und spielen dann mit den behinderten Athlet*innen zusammen. Sie kommen also in ein Umfeld, in dem sich Ackers Sportler wohl, aufgehoben und angenommen fühlen.
Im Verein ist Acker die Frau für alle Fälle. Sie hilft ihren Schützlingen beim Ausfüllen von Formularen und macht sogar den Fahrdienst, das Benzingeld zahlt sie aus eigener Kasse. "Wie soll ein Sportler mit Behinderung, der nicht lesen, schreiben oder hören kann, allein zum Training kommen?" Dass ihre Spieler dahingehend etwas selbstständiger werden, führt Acker ein Mobilitätstraining durch. Das heißt, sie fährt ein paar Mal mit dem Bus mit und sagt dann: "Hier musst du einsteigen, da musst du wieder aussteigen." Unheimlich kräftezehrend, wenn man sich mal überlegt, dass das die vorab zu lösenden Aufgaben sind, um überhaupt erst Sport treiben zu können.
Ihr Motto: Einfach machen und ausprobieren. Und wenn es nicht klappt, dann ist es eben so. Behindertenfußball sei ihre Lebensaufgabe, ihre Ambition geworden. Sie genieße jedes einzelne Training – wegen der Offenheit, Herzlichkeit und Fröhlichkeit, die man erfährt. "Wenn wir sechs zu null verlieren, dann freuen wir uns mit den anderen. Wir gehen nie vom Platz, ohne den anderen im Arm zu haben." Acker ergänzt: "Der Fußball ist sauberer, weil die Spieler völlig unbelastet anderen gegenüber sind. Ich liebe es, diese einzigartigen Momente in mein Herz aufzunehmen." Für ihre Verdienste wurde Acker nun für den Ehrenamtspreis nominiert. Solche Auszeichnungen sind ihr jedoch weniger wichtig als die persönlichen Fortschritte ihrer Spieler.
Besonders stolz ist Acker auf Oemer Cümen. Der 35-Jährige ist einer von denen, die damals bei der Gründung des Teams schon dabei waren. Mit 18 kam er in die Behinderten-Werkstatt, in der Acker ihn betreute. Jetzt, Jahre danach, hat Oemer einen festen Job und ist Stammspieler. Acker ist für den Routinier wie eine zweite Mutter, sie hat seine ganze Entwicklung verfolgt. "Ich habe ihm immer gesagt, Oemer, fange langsam an. Es ist besser, groß aufzuhören als groß anzufangen und klein aufzuhören. Und diesen Spruch höre ich heute immer noch bei ihm. Er weiß, ich muss kleine Schritte gehen, um etwas Großes zu erreichen." Die sozialen Effekte des Vereinslebens auf die Spieler sind immens. Auch, weil Acker viele Aktivitäten fernab des Platzes anbietet: "Ich war mit meinen Jungs im Allgäu zum Rafting. Ich war mit meinen Jungs, weil sie noch nie im Urlaub waren, eine Woche auf Ibiza. Wir haben einen Vereinsgarten, den wir gemeinsam herrichten. Dort machen wir dann Cocktails, hören Musik oder machen bisschen Bogenschießen." Manchmal besuchen sie in Marburg Ackers Eltern und machen dort ein kleines Trainingslager inklusive Turnier mit ein paar anderen Mannschaften. Durch all das entstand in den vergangenen Jahren ein besonderer Teamspirit und ein inniges Verhältnis zueinander: "Die Jungs wissen, dass sie sich hundertprozentig auf mich verlassen können, und ich kann mich hundertprozentig auf meine Jungs verlassen."
Gänsehautmoment in Abu Dhabi
Normal spielen die Jungs in unregelmäßigen Abständen bei Turnieren. "Es gibt für uns keine Ligen. Wir sind angebunden an Special Olympics. Das ist im Moment die einzige Möglichkeit, die wir für Turniere haben. Wir trainieren auf jeden Fall mehr als wir spielen. Das ist schade." 2019, bei den letzten World Games in Abu Dhabi, holte die BSG Neckarsulm für Deutschland sensationell den dritten Platz. Ein Erlebnis, das nicht nur die Spieler, sondern auch Acker mit Stolz erfüllt und nachhaltig geprägt hat: "Als wir in das Stadion eingelaufen sind war das wirklich ein Gänsehautmoment, 150 Nationen beim Einlauf in das Stadion von Abu Dhabi. Mit Feuerwerk. Die Augen der Jungs haben gefunkelt. So etwas zu erleben, das ist mein Glück."
Den sportlichen Erfolg gilt es nun zu wiederholen, bei den ersten Special Olympics World Games in Deutschland. Bei einem Qualifikationsturnier setzte sich Neckarsulm gegen andere Teams durch und geht nun im Juni in Berlin für Deutschland an den Start. Entscheidend war nicht nur, wer das Turnier gewinnt, sondern z. B. auch, wie man als Team agiert, wie heterogen die Mannschaft ist oder wie man mit anderen Mannschaften umgeht. Zur Vorbereitung war das Team zuletzt extra für eine Woche im Trainingslager in Portugal. "Es war einfach schön. Einige sind noch nie geflogen. Aber auch in einem anderen Land zu sein, eine andere Sprache zu erfahren, etwas über das Land zu lernen, dort Fußball zu spielen. Das ist das Größte", erzählt Acker. Auf dem Platz wurde hart geschuftet, denn es gibt klare Ziele: "Wir haben ein starkes Team, von daher wünsche ich mir, dass wir uns bei den Special Olympics unter den ersten drei wiederfinden werden."
Was Acker sich noch viel mehr wünscht: Die Stationierung einer bezahlten Stelle in jeder Kommune, die sich speziell um den Behindertensport kümmert. Denn es fehle vor allem an der Infrastruktur. Diese Stelle sei nötig, um mehr Menschen mit Beeinträchtigung in Vereine oder Freizeit-Mannschaften zu kriegen und somit langfristig etwas zu verändern. Sowas könne auf Dauer nicht nebenher passieren.